«Der Mittelstand kann sich Witikon nicht mehr leisten»
In der Siedlung «Im Glockenacker» müssen 99 Wohnungen weichen: Denn im Witikoner Quartier entstehen neue Überbauungen mit 177 Wohnungen. Die bisherigen Mieterinnen und Mieter müssen bis Ende März 2024 ausziehen. Das berichtet der «Tages-Anzeiger» am Mittwoch.
Witikon ist stark betroffen
Der «Glockenacker» ist längst kein Einzelfall: Der Quartierverein hat Daten der geplanten Bauprojekte ausgewertet. Laut diesen sollen in Witikon insgesamt 1250 neue Wohnungen entstehen. 700 davon ersetzen ältere Wohnungen. Hunderten Personen würde die Wohnung gekündigt.
Die weitere Auswertung zeigt, dass mehr als zwei Drittel der Witikerinnen und Witiker in Wohnungen lebten, die in den nächsten 20 Jahren renoviert werden müssten. 7000 Menschen fürchten um ihr Dach über dem Kopf.
Was sind die Gründe für die vielen Umbauten?
In den 1950er-Jahren gab es in Witikon einen regelrechten Bauboom. In den nachfolgenden 20 Jahren wurden etliche neue Siedlungen gebaut. Diese Häuser müssten nun eigentlich saniert werden, sagt Mischa Schiwow, AL-Gemeinderat und Vorstandsmitglied des kantonalen Mieterinnen- und Mieterverbandes dem «Tages-Anzeiger». Doch die Eigentümer und Eigentümerinnen reissen lieber ab.
«Ersatzneubauten lohnen sich mehr», so Schiwow. Denn: Die Stadt Zürich verteilt einen Bonus bei grösseren Bauprojekten. So könnten noch mehr Wohnungen entstehen.
Das, obwohl die bestehenden Häuser noch in einem guten Zustand seien. «Bei uns wurden vor 20 Jahren Küchen, Bäder, Fenster und die Heizung saniert», sagt Bruno Müller-Hiestand, ein ehemaliger Architekt. Ein Abriss sei noch nicht fällig.
Mieter müssen doppelt soviel zahlen
Wegen der Neubauten steigen auch die Mieten. Eine neue Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in Witikon koste 2700, eine mit viereinhalb Zimmern 3700 Franken, erklärt Balz Bürgisser, Präsident des Quartiervereins und Grünen-Gemeinderat dem «Tages-Anzeiger». «Die meisten bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner können sich das nicht leisten», sagt Bürgisser.
Ausserdem werde allen Mietenden gleichzeitig gekündigt. Diese fänden jedoch logischerweise nicht alle gleichzeitig eine neue Wohnung im Quartier. Die Konsequenz: Sie müssen wegziehen – zum Teil sogar in andere Kantone.
Das sagen Betroffene
Margrit Brunner und ihr Mann wohnten 28 Jahre in Witikon. «Wir waren sehr verankert», sagt Frau Brunner. Doch auch sie mussten wegziehen. An der Stelle ihrer alten Wohnung baut die Zürcher Noldin Immobilien AG 130 neue Wohnungen – im alten Gebäude gab es nur 65 Wohnungen.
Für ihre alte Wohnung in Witikon hätten sie für eine 121 Quadratmeter grosse Wohnung 2194 Franken bezahlt. Bei der Suche nach einem ähnlich grossen und teuren Wohnung in Witikon hatten sie «keine Chance» gehabt. Nur schon eine 75-Quadratmeter Wohnungen habe 3000 Franken gekostet.
Weder in der Stadt Zürich noch in der Agglomeration wurde das Rentner-Ehepaar fündig – obwohl sie nie schlecht verdienten und über eine gute Rente verfügten. Brunner sagt: «Wenn nicht einmal Leute wie wir in Zürich eine zahlbare Wohnung finden, hat die Stadt ein Problem.» Das Ehepaar wohnt nun seit knapp einem Jahr in Eschenz, im Kanton Thurgau.
Präsident des Quartiervereins Bürgisser sagt: «Wenn es so weitergeht, kann sich der Mittelstand Witikon nicht mehr leisten.»
Was ist das Problem in Witikon?
Das gleiche Phänomen werde, so Mischa Schiwow, auch in Schwamendingen beobachtet. Mit einem Unterschied: Die Wohnungen im Quartier gehörten dort oft Genossenschaften – und nicht wie in Witikon gewinnorientierten Gesellschaften. Daher würden die Mieten in Schwamendingen weniger stark steigen.
Auch der Stadtrat äusserte sich zur Situation: Die Stadt könne «nur bedingt die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum fördern», schreibt er. Es gebe aber eine neue Vorgabe im Baugesetz, die den öffentlichen Einfluss zukünftig stärken wolle. Auch erwerbe die Stadt drei Wohnhäuser in Witikon.
Kündigungsfrist herabgesetzt
Dies hilft den Bewohnern «Im Glockenacker» nicht mehr. Die Kündigungsfrist sei nun sogar auf einen Monat herabgesetzt worden. «Vor lauter Angst nehmen viele die erste Wohnung, die sie kriegen», sagt Bruno Müller-Hiestand.
(gin)
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